Das Bügelzimmer                                  

 

 

 

Mary fasste an die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt. Blinzelte hinaus. Nichts. Sie schloss wieder ab. Ging zurück ins Bügelzimmer.

 

   Da war doch was gewesen. Jedenfalls hatte es sich so angehört. In letzter Zeit war sie nervös. Es war mehr so ein diffuses Gefühl. Sie konnte also nicht sagen, weshalb sie nervös war. Nur, dass es da war, dieses Gefühl, das konnte sie sagen. Seit einigen Tagen da war – seit zwei Wochen oder so. Seit zwei Wochen, ja. Da hatte sie mit Karin gesprochen. Am Telefon.

 

   Das Haus war leer, wie jeden Tag. Kein Mann. Keine Kinder. Kein Mensch sonst. Jens hatte sie irgendwann verlassen. Wollte in den Süden. Ob sie mitkäme. Nein! Sie wollte nicht. Sie hatte gemerkt, dass es ihm recht war. Also war es ihr auch recht, dass er ging.

 

   Es hatte Vorfälle gegeben, gewisse Vorfälle. Anfangs hatte sie die verdrängen können, hatte sie gar nicht wahrgenommen, diese Vorfälle, hatte am gewohnten Leben festgehalten.

 

 

 

Das Bügelzimmer, wie sie es nannte, lag hinter der Küche, mehr ein Abstellraum, ohne Fenster, mit einer Glühbirne, die nackt von der Decke hing. Mittendrin stand also das Bügelbrett. Es füllte beinahe die gesamte Breite aus. Hinten an der Rückwand eine Tiefkühltruhe. In einer der vorderen Ecken war noch Platz für den Wäschekorb, in der anderen für ein kleines Tischchen, auf dem sie die gebügelten und akkurat zusammengelegten Stücke stapelte.

 

   Jens war Mechaniker. Kfz-Mechaniker war er. Da war es klar, dass seine Latzhosen und die Blousons regelmäßig in die Wäsche mussten. Und danach gebügelt. Wie würde es aussehen, wenn er in ungebügelter Kleidung herumliefe. Nein! Da war nicht mit ihr zu diskutieren. Auch wenn sie wegen der Vorfälle vielleicht nachlässig hätte werden können. Oder nachtragend hätte sein müssen.

 

   Es klingelte. Das Telefon klingelte. Sie erschrak vor dem schrillen Ton. Kippte das Bügeleisen in den Stand. Schaute sich um. Wartete. Wer, um alles in der Welt … ? Sie kannte doch die Leute gar nicht. Die Leute, die hier wohnten. Und Familie? Da war nur noch ein Großvetter, ein entfernter. Sie wusste nicht mal, wo der wohnte.

 

   Vielleicht wollte der Anrufer mit Jens sprechen. Mary bewegte sich nicht. War ganz vorsichtig mit dem Atmen. Jens war doch nicht mehr da. Der Anrufer war also einer, der ihn gar nicht richtig kannte. Also, was wollte der? Ich hebe nicht ab, flüsterte sie energisch und schüttelte den Kopf. Nein, nein! Ich hebe nicht ab.

 

   Oder Karin? War das Karin? Aber was würde Karin wollen? Es war doch alles gesagt. Alles war klar zwischen ihnen.

 

 

 

Sie wusste nicht, wie lange es zurücklag. Wie lang, dass sie die Sache spitzbekommen hatte. Jedenfalls war sie beim Yoga gewesen. Oder hatte sie eingekauft? Es machte keinen Unterschied.

 

   Sie hatte damals keinerlei Veranlassung gehabt, das Haus leise und behutsam zu betreten. Sie war in guter Stimmung gewesen. Wie eigentlich immer. Fasste an die Klinke und öffnete die Tür. »Hallo! Ich bin wieder da«, rief sie, marschierte durch den Flur, warf das Schlüsselbund im Vorbeigehen auf den Esstisch und betrat das Wohnzimmer.

 

   Karin lächelte sie an.

 

   »Hallo!«, wiederholte Mary. »Du?«

 

   »Hallo!«, antwortete Karin. »Ja … Ich ...«

 

   »Wo ist Jens?«

 

   »Ich ... Äh ...« Karin wandte ihren Kopf zur Badezimmertür. »Ich glaube, er ist im Badezimmer«

 

   »Du glaubst, er ist im Badezimmer?« Mary war stehengeblieben und fühlte sich fremd in ihrer Wohnung. »Was will er im Badezimmer?« Ihre Bewegungen waren jetzt langsam, als sie sich den Mantel auszog. Legte ihn fein über die Rückenlehne des Sofas. Fast vorsichtig. Abwartend. Wollte Karins Antwort nicht überhören.

 

   Die sagte aber nichts mehr. Glotzte Mary nur an.

 

   Jedenfalls ... Irgendwann kam Jens ins Wohnzimmer zurück. Man quatschte über Belangloses. Dann erhob Karin sich und steuerte auf die Haustür zu. Jens folgte ihr. Mary stand wie angewurzelt, hörte nur das Getuschel, das vom Flur kam. Ja, so war das.

 

   Das Telefon hatte jetzt aufgehört zu klingeln. Mary atmete tief durch und schüttelte die Hände aus, griff sich als nächstes eins der großen grünen Handtücher und breitete es über das Bügelbrett. Ja, sie bügelte auch Handtücher. Sie hatte immer schon Handtücher gebügelt. Die meisten Frauen taten das nicht. Das wusste sie. Aber sie war nicht wie die meisten. Wo war der Aufwand bei Handtüchern? Handtücher bügeln war richtig erholsam nach einer kniffligen Bluse oder einer der Latzhosen, die Jens bei der Arbeit trug.

 

 

 

Jens war schon über dreißig Jahre bei Kruse und Co. Die waren zufrieden mit ihm. Er ließ sich nie etwas zuschulden kommen. Erledigte seine Arbeit nach alter Manier. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, sagte er immer. Und das meinte er auch so. Pünktlichkeit! Verlässlichkeit! Sauberkeit!

 

   Beim Tanzen damals. Da hatten sie sich kennengelernt, sie und Jens. Er stand gegen den Tresen gelehnt und stützte sich mit den Ellbogen ab. In der Rechten hielt er ein Glas, aus dem er ab und zu einen Schluck nahm. Als sie den Raum betrat, fiel der Mann ihr sofort ins Auge, wie er sich da so lässig postiert und die Mädchen auf der Tanzfläche ins Visier genommen hatte. 

 

   Später dann kam alles, wie es kommen musste. Sie hatten den ein oder anderen Drink zuviel genommen und es beide auf das Eine angelegt. Die Rückbank seines VW war eng und ungemütlich. Und auch das Rumgetue, das Fummeln und Grabschen, das Vögeln war nicht so, wie sie sich das immer erträumt hatte.

 

   Bis zum nächsten Wiedersehen vergingen Wochen. Nicht, dass sie nicht gewollt hätte. Aber irgendwie hatte es nie gepasst. Er musste arbeiten, oder in seiner Familie gab es etwas zu feiern. Oder es war sonst was. Ja, so war das.

 

 

 

Am Telefon eben – das konnte nicht Karin gewesen sein. Die hatte was von einem längeren Verwandtschaftsbesuch erzählt. Neulich. Und wie sollte ihr dann in den Sinn kommen, von dort aus bei Mary anzurufen? Unwahrscheinlich!

 

   Karin und Mary kannten sich aus Kindergartentagen. Karin, zwei Jahre jünger als Mary. war eine kleine Süße. Sie hatte blondes Haar und einen niedlichen Pferdeschwanz, nicht wie die meisten anderen Kinder Zöpfe oder so. Sie rannte herum wie ein flinkes Wiesel und schubste die anderen Kinder, sodass die aufs Parkett fielen und sich manchmal den Kopf stießen. Wenn sie lachend zum Stehen kam, flog ihr vorwitziger Pferdeschwanz von einem zum anderen Ohr. Mary mochte die Kleine sofort. Vielleicht auch deshalb ein wenig, weil sie nie von ihr geschubst wurde. Seltsam! Aber vor Mary hatte Karin irgendwie Respekt. Von Anfang an.

 

   Sie stellte das Bügeleisen ab. Hatte sie das Handtuch angebrannt? Oder was war das für ein Geruch? Sie konnte den Geruch nicht einordnen. Sie faltete das Tuch auseinander und sah es sich genau an. Wie riecht denn ein Brandfleck? Da war kein Brandfleck. Also, ein Brandfleck war das nicht, was da roch.

 

 

 

Im Nachhinein war ihr einiges aufgegangen. Seine Hektik, seine Stimmungen. Seine Unkonzentriertheit, wenn etwas anlag. Seine Überstunden. Seine Gereiztheit. Dinge, die es früher nicht gegeben hatte.

 

   Und irgendwann hatte er sie geschlagen. Mitten ins Gesicht. Sie wusste den Grund nicht. Hatte ihn gereizt – offenbar. Es war auch nicht die Faust gewesen. Die flache Hand nur.

 

   Nachdem er sie geschlagen hatte, stand er vor ihr wie gelähmt. Noch mit erhobener Hand. Sie sprachen kein Wort. Sie starrten sich nur an, und sie ließ es gut sein.

 

   Sie sparte sich die Fragerei. Hoffte insgeheim, er würde sich erklären. Auch, was Karin anging. Aber da kam nichts. All die Tage nicht. So war das.

 

 

 

Wenn sie sich´s  überlegte: Sie war viel glücklicher so. Allein. Ohne Jens. Keine Furcht mehr, etwas Falsches zu tun. Oder zu sagen. Natürlich war das eine Umstellung. Keiner steckt so einfach 35 Jahre weg.

 

   Sie ging nicht mehr oft aus dem Haus. Manchmal noch einkaufen. Sie hatte ja alles. Die Schränke voller Tüten und Dosen. Den Fernseher im Wohnzimmer. Was wollte sie mehr. Und abends trank sie ihren Wein. Keinem war sie eine Erklärung schuldig. Natürlich trank sie nicht zu viel. Darauf achtete sie schon.

 

  

 

Ihre Hochzeit damals, die war wunderschön. Alles in Weiß: Die Kutsche mit den Pferden, die Blumen, die Blumenmädchen. Das Kleid natürlich. Und Jens war ein Prinz von einem Bräutigam. Sie küssten sich so oft wie nie vorher. Die Musik. Das Tanzen. Ihre Wangen, die vor Erregung und Lachen glühten. Die verstohlenen Blicke der anderen Mädchen. Und irgendwann hatten sie sich auf dem Klo geliebt.

 

   Hatte es wieder geklingelt? Sie musste besser aufpassen! Wirklich. War das jetzt die Tür oder das Telefon? Sie verharrte in ihrer Bügelbewegung und lauschte.

 

   Nein! Es war nicht das Telefon. Vorsichtig stellte sie das Bügeleisen ab und schlich durch den Flur zur Tür. Sie strich mit der Hand übers Haar und räusperte sich leise, fasste an die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt. Blinzelte hinaus. Nichts. Ging zurück ins Bügelzimmer. Sie musste aufpassen, dass sie die Balance nicht verlor auf ihrem Weg durch die Wohnung. Überall lagen Sachen im Weg. Klamotten. Essensreste. Sachen halt. Sie musste das wegräumen. Klar. Irgendwann. Aber bügeln musste sie schließlich auch.

 

 

 

Karin und Mary hatten sich nach der Kindergartenzeit aus den Augen verloren. Eines Tages zog sie mit ihren Eltern fort. Wohin? Wer weiß! Sie war halt weg. Von einem auf den anderen Tag. Und irgendwann war sie wieder da. Von einem auf den anderen Tag. Erwachsen. Blond. Schön wie damals. Und machte die Männer verrückt. Ja. Das tat sie.

 

   Aber mit Jens fing sie nichts an. Am Anfang jedenfalls. Dann kam so ganz allmählich diese Zeit. Na ja, diese Zeit mit den Vorfällen, diesen Vorfällen eben. Und eines Tages hatte Mary genug von alledem. Wollte nicht mehr gedemütigt werden. Wollte wissen, was Sache war. Rief Karin an und lud sie zum Kaffee ein. Sie hatte extra Bienenstich besorgt, weil sie wusste, dass Karin den so gern mochte. Nachdem sie über all das gesprochen hatten, gab es keine offenen Fragen mehr. Alles war klar. Alle waren zufrieden.

 

 

 

Das war vor zwei Wochen. Ja. Vor zwei Wochen war das. Sie blickte nach links auf den Stapel mit der fertigen Wäsche und sah, dass der zu einer ziemlichen Höhe angewachsen war, schaltete das Bügeleisen aus und stellte es senkrecht. Griff sich den Stapel und verließ das Bügelzimmer, deponierte ihn auf dem Esstisch und kehrte ins Bügelzimmer zurück.

 

   Das Kabel steckte nicht im Doppelstecker, als sie es herauszog, sondern im Hauptstecker. Sie hatte also die Kühltruhe vom Stromkreis genommen, um das Bügeleisen mit Strom zu versorgen. Wo war sie nur mit ihren Gedanken? Sie hatte doch bestimmt vor mehr als drei Stunden mit dem Bügeln angefangen. Vielleicht war die Truhe sogar viel länger ohne Strom. Denn gestern hatte sie doch auch gebügelt. Sie klappte das Bügelbrett zusammen, stellte es an seinen angestammten Platz und hob den Deckel der Kühltruhe an. Das gefrorene Blut auf den Köpfen der beiden leblosen Körper war bereits wieder flüssig geworden.