Thomsen

 

»Den Zucker! Hast du den Zucker aufs Tablett gestellt?«

 

Er hatte den Zucker vergessen. Auch die Teelöffel. Als er das Tablett durch die Schiebetür balancierte, lächelte er leise.

 

»Alzheimer!« sagte sie und sah ihm neckisch entgegen. »Alois Alzheimer !«

 

Sie waren noch jung gewesen - sehr jung – und erst einige Jahre zusammen – da hatte sich wie von ungefähr die Gewohnheit in ihren Alltag eingeschlichen, kleine Vergesslichkeiten so zu kommentieren.

 

Er stellte das Tablett ab und ließ sich neben ihr im Korbstuhl nieder. Dann beugte er sich zu ihr hinüber und küsste sie sanft auf die Stirn. Eine Handbreit über den Dächern jenseits des Kinderspielplatzes stand die orangerote Sonne am Himmel. Der Balkon war in warmes, wohliges Licht getaucht.

 

»Erinnerst du dich?« 

 

Sie machte eine lange Pause, in der sie selbst sich den Erinnerungen hinzugeben schien, die sie gerade im Begriff war, ihm mitzuteilen.

 

»Erinnerst du dich? An Thomsen?«

 

Tief unter ihnen ging der kleine, rothaarige Dicke mit seinen beiden Dackeln über den Wäscheplatz. Das tat er jeden Morgen und jeden Abend. Am Anfang der kleinen Pappelreihe würde er gleich stehenbleiben und seine Hunde ihr Geschäft verrichten lassen.

 

Thomsen! Der Name sagte ihm nichts.  Im Laufe der Jahre waren so viele Namen aufgetaucht und wieder verschwunden, dass er es irgendwann aufgegeben hatte, sich die dazugehörigen Gesichter und Geschichten zu merken.

 

»Es ist mindestens 30 Jahre her. Gar nicht mehr wahr.«

 

Der Rothaarige war am Ende der Baumgruppe angekommen. Gleich würde er die Ecke des Wohnblocks erreicht haben und von oben nicht mehr zu sehen sein. Irgendetwas musste die beiden Hunde aufgeregt haben: Ihr wütendes Gekläffe und die barschen Befehle des kleinen Dicken hallten von den Hauswänden wider und vermischten sich mit dem Gejohle der Kinder zu einem vertrauten Geräusch. Er mochte das.

 

»Nicht, dass er mich sehr interessiert hat. Damals.«

 

Eine laute Frauenstimme, die einen Namen rief, erscholl über den Platz. Eine Kinderstimme antwortete. Sie schenkte Tee nach und gab in beide Tassen einen Löffel Zucker.

 

Er war schon seit vielen Jahren nicht mehr unten gewesen. Er wusste auch gar nicht, was er da unten hätte tun sollen. Den Müll entsorgen? Einkäufe erledigen? Das gehörte irgendwie schon lange nicht mehr zu seinen Aufgaben.

 

»Er war nur einfach da. Und du warst fort. Erinnere dich!«

 

Vielleicht meinte sie die Zeit der Montagearbeit. Da war er wochenlang fort. Nicht einmal am Wochenende war er nach Hause gekommen.

War heute Freitag? Dann musste der Junge doch schon dagewesen sein. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Oder war erst Donnerstag?

Der Spielplatz lag zur Hälfte bereits im Schatten des gegenüberliegenden Wohnblocks, und nur hier und da war die Stimme eines Kindes zu vernehmen, die sich in den achten Stock zu den beiden Alten verirrte.

 

»Wir hatten einen kleinen Streit, bevor du gingst. Belanglos. Wie meistens. Ich weiß es noch wie heute. Da stand er mit einem Mal vor der Tür. Sagte, er ist ein Freund von dir und will dich besuchen.«

 

Von links kam ein Motorengeräusch. Und dann hörte er, wie die Mülltonnen laut hin und her bewegt und geleert wurden. Danach der langgezogene Pfiff. Er liebte auch das. Stellte sich vor, jetzt da unten zu sein. Einer der Müllleute. Hinten auf dem Wagen mitzufahren. Mit den Kollegen im Pausenraum Tee zu trinken. Feierabend. Nach Hause kommen. Mitten im Leben.

Also war heute Donnerstag. Die Müllleute kamen doch immer am Donnerstag.

 

»Da hab ich ihn natürlich reingelassen, hörst du? Das hätte ich vielleicht nicht tun sollen. Das hätte ich bestimmt nicht tun sollen. Aber. Na ja!«

 

Morgen kommt der Junge. Er hatte seinen Namen vergessen. Oder hatte ihn nie gekannt. Daran, dass er auch einmal so jung gewesen war, konnte er sich kaum erinnern. Es kam ihm so vor, als ob es in einem früheren Leben gewesen wäre, oder sogar mehrere Leben entfernt von heute.

Über dem Platz lag jetzt eine fast bedrückende Stille. Es dämmerte bereits. Kleine rosa Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Und es wurde kühl.

 

»Als du wieder zu Hause warst, wollte ich dir gleich von Thomsen erzählen. Ich hab´s  dann nicht getan. Ich hab´s  nie getan. Heute ...«

 

Er musste Ordnung in seine Gedanken bringen: Hieß der Junge Thomsen? Er kam nicht auf die Antwort. Beim besten Willen nicht. Er bemerkte, wie ihm auch die Frage entglitt.

 

»Heute musste es sein. Ich hab es immer vor mir hergeschoben. Immer wieder hat mir der Mut gefehlt. Ich sagte mir: Überstürze nichts! Die Zeit wird kommen. Du weißt, welcher Tag heute ist, nicht wahr?«

 

 

Sie drehte ihren Kopf zur Seite und berührte seine Hand. Sie sah, wie er mit leeren Augen in das ersterbende Sonnenlicht blickte.