Der Kämmerer der Amtsverwaltung!

 

 

 

Was soll ich sagen? Ich kann mich nicht erinnern, in meinem Leben je etwas so irrsinnig Komisches, so etwas über alle Maßen Vergnügliches erlebt zu haben wie seinerzeit mit meiner besten Freundin Beate im Zug von Hamburg nach Berlin.

 

Dabei ist es nicht nur diese Komik allein, dieses pure Vergnügen, erzeugt durch einen einzigen prägnanten Satz am Schluss dieser kleinen Begebenheit, die so außergewöhnlich ist, dass sie sich mir unvergesslich ins Gedächtnis eingraben konnte. Nein! Es ist auch dieses seltene Gefühl von Verbundenheit, das sich unter dem Publikum breitmachte, unmerklich erst, aber im Verlauf der Episode immer spürbarer, so dass es mir am Schluss erschien, als wären wir alle Teil eines kleinen, erlesenen Theaterstücks.

 

Eine solch intime Vertrautheit zu mir völlig fremden Leuten, geboren aus dem kollektiven Verlangen nach unverhohlener, reiner Freude, ist mir vor dieser Geschichte und auch nach ihr nie wieder untergekommen.

 

Schuld an allem war letzten Endes die Schwerhörigkeit meiner Freundin, wenn man in dem Zusammenhang von Schuld sprechen will.

 

Beate ist um die fünfzig, von normalem Wuchs, höchstens etwas pummelig vielleicht. Sie redet wie ein Buch, das man zu Beginn nicht weglegen mag, hat man einmal angefangen, darin zu blättern. Und sie ist schwerhörig, wie gesagt.

 

Wir hatten einen Tischplatz. Saßen am Fenster. Ich gegen die Fahrtrichtung, Beate mir gegenüber, denn sie muss immer im Blick haben, was auf sie zukommt, sonst fühlt sie sich unwohl. Der Wagen war bis auf den letzten Platz besetzt.

 

Sie sah mir mit freudiger Erregung ins Gesicht und beugte sich dann über den Tisch zu mir hinüber: »Ich bin seit zehn Jahren nicht mehr im KaDeWe gewesen. Mindestens. Und ich kaufe die gesamte Parfum-Abteilung leer. Darauf kann er Gift nehmen! Das sag ich dir.«

 

Mit er meinte sie ihren Mann. Sie hatten einen kleinen Streit, kurz bevor wir aufbrachen. Nichts Bewegendes.

 

»Euer armes Konto«, bemerkte ich. Aber ich fühlte genau wie sie. Meinetwegen konnte das gesamte KaDeWe nur aus der Parfum-Abteilung bestehen. »Meiner schickt mich in die Wüste, wenn ich ihm das antue«.

 

Ein mitleidiger Blick traf mich. »Du Arme!« Beate fingerte sich ein Tempo aus der Handtasche und schnäuzte geräuschvoll hinein. »Du musst dich mal durchsetzen zu Hause. Er kann dir doch nicht ewig auf der Nase rumtanzen, dieser Kasper.«

 

Sie mochte ihn nicht. Das wusste ich. Und sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, was jedoch unser beider Freundschaft keinen Abbruch tat.

 

Ich bemerkte, wie man aufmerksam wurde, wenn nicht unbedingt auf das, was wir sprachen, so doch wie wir sprachen, genauer: wie Beate sprach, denn sie dachte überhaupt nicht daran, ihre Lautstärke der Umgebung anzupassen. Wie gesagt: Sie ist schwerhörig. Und wer schwerhörig ist, spricht manchmal lauter, als es den Leuten lieb sein kann. Die Blicke, die uns zugedacht waren, tendierten von neutral bis alles andere als freundlich. Ich fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut. Aber Beate nahm von all dem rein gar nichts wahr. Im Gegenteil: Sie war in ihrem Element und sprach bald mit Händen und Füßen, wie es ihre Art ist. Sie teilte mir haarklein mit, wie sie sich das 3-Tage-Programm während unseres Berlin-Aufenthalts so vorstellte, obwohl wir zur Klärung dieser Frage bereits zwei oder drei Essen in unserem Lieblingslokal abgehalten hatten.

 

Irgendwann, vielleicht nach einer halben Stunde, womöglich früher, trat das ein, was immer eintritt, wenn wir zusammen sitzen und quatschen und meine Freundin beginnt, ihre im Bekanntenkreis so berüchtigten und gefürchteten Monologe zu halten: Ich wurde unaufmerksam, ihres Wortschwalls überdrüssig und blickte hin und wieder hilflos lächelnd zu unseren Nachbarn hinüber, um auf diese Weise Nachsicht zu erbitten und den Eindruck, den man offensichtlich im Begriff war, sich von meiner Freundin zu machen, möglicherweise ein klein wenig zu korrigieren. Hier und da erhielt ich stumme Zustimmung, einen wohlmeinenden Blick, ein kaum erkennbares Kopfnicken, ein Achselzucken. So also wurden wir beide, Beate und ich, in unserem ICE-Waggon zu einer kleinen, durchaus erduldeten Institution.

 

 

 

Dann bekommt der Lauf der Dinge eine abrupte Wendung. Ihr Telefon klingelt.         »Entschuldige!« Sie greift in ihr Täschchen, kramt das Handy hervor, klappt es auf und lehnt sich zurück.

 

»Hallo! Hier Beate.« Sie spricht plötzlich lauter, höher. Die Mitreisenden werden stutzig.                   »Einen Augenblick, Karin!« Sie nimmt das Telefon vom Ohr, beugt sich wieder hinüber zu mir und lässt mich mit gedämpfter Stimme wissen: »Ich schalte den Lautsprecher an. Ich hör so schlecht. Macht dir doch nichts, oder?«

 

Ich fühle mich völlig überfragt. Aber ich höre sowieso schon Karins Stimme am anderen Ende so laut und deutlich, als säße sie direkt neben mir.

 

»Ich muss dir was erzählen. Du weißt doch, dass ich heute dieses Online-Date hatte.«

 

»Das ist Karin«, flüstert Beate laut.

 

Ich nicke ihr zu. Zwei, drei Mitreisende drehen ihre Köpfe, als sie das Gespräch fortsetzt. »Erzähl, Karin!« Sie lehnt sich wieder zurück. Die Spannung wächst. Wer hört nicht gern

 

intime Einzelheiten über ein Date, das eine erwachsene Frau gerade hinter sich hat?

 

»Volker heißt er, ein Kerl von einem Mann, sag ich dir.«

 

Wie man bereits vermuten kann, ist Karin die zweitbeste Freundin Beates. In ihr hat sie ihren Meister gefunden, was das Sprechen ohne Pause angeht. Und Beate übt sich gerade in einer Disziplin, die zu üben sie sonst kaum Gelegenheit hat: Sie hört zu.

 

»Das Essen war so la la. Aber das interessiert dich ja gar nicht. Wir waren bei Kenny. Du weißt. Und du ahnst, welche Frage kam, als wir aus der Tür raus waren, oder?«

 

Beate druckst. Und Karin spricht sofort weiter, als ob sie das Thema nur rhetorisch angerissen hätte. »Die Frage war: Gehen wir zu mir oder zu dir?«

 

»Klar«, pflichtet Beate ihr bei.

 

»Und rate mal, wo wir landen!«

 

»Bei dir«, kommt Beates schnelle Antwort.

 

»Denkste! Nein, bei ihm. Und jetzt halt dich fest!«

 

Ein vielsagender Blick trifft mich, als Karin eine kleine Pause macht, um ihre Worte wirken zu lassen. Und sie wirken. Denn ich bemerke, wie das halbe Abteil den Atem anhält und der Auflösung lauscht, die jetzt kommen soll, ohne dass auch nur einer der Anwesenden mit dieser Eröffnung etwas anfangen könnte, denn keiner kennt ja Karin außer Beate und mir. »Sitzt du?«, kommt die Nervenkitzelfrage aus dem Lautsprecher.

 

»Ja, ich sitze. Nun sag schon!«

 

Ich spüre, wie das Publikum sich dieser Aufforderung anschließt, weil es endlich wissen will, wie die Geschichte weitergeht.

 

»Du kennst übrigens das Haus.«

 

Karin versteht es, die Spannung zu halten.

 

»Ich sage nur: Amtsverwaltung!«

 

Großes Rätselraten bei der Hörerschaft.

 

Auch Beate kann ihrer Gesprächspartnerin nicht folgen. »Was meinst du damit?«

 

»Egal! Der Punkt ist: Es hat nicht geklappt.«

 

Meine beste Freundin hakt nach: »Wie … nicht geklappt?«

 

Sie rollt mit den Augen und wirft mir gespielt verzweifelte Blicke zu.

 

Der Waggon stöhnt.

 

»Tu nicht dümmer, als du bist, Dummchen! Was denn wohl?«

 

Achselzuckend sitzt Beate mir gegenüber.

 

»Na, er hat keinen hochgekriegt! Mein Date. Und er heißt mit Nachnamen Paulsen und ist der Kämmerer des Amtes. Und wollte mit mir seine Frau betrügen.«

 

Ihre Stimme fängt an zu stottern und zu glucksen und überschlägt sich, und wir vernehmen nur noch ein Prusten durchs Telefon. Bis sich Karin nach einigen Sekunden Sendepause wieder meldet und mit kaum beherrschter Erregung den letzten Teil ihrer Rede vom Stapel lässt: »Aber Beate! Schwöre mir! Hörst du?«, schallt es durch den Lautsprecher, »schwöre mir, dass du niemandem gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen erzählst. Das wäre mit hammerpeinlich. Ich bringe dich um.«

 

Meine Beate sitzt kraftlos in ihrem Sitz, faselt kleinlaut etwas wie »Na, klar. Kannst dich auf mich verlassen«, klappt ihr Handy zusammen und schaut zaghaft in die Runde.

 

Das Publikum brüllt. Ich registriere, wie man hier und da versucht ist, Beifall zu klatschen. Es dauert eine Zeit, bis die Wogen sich glätten.

 

Und es gibt niemanden, so vermute ich jedenfalls, dem diese Gratis-Vorstellung nicht gefallen hätte, dieses über alle Maßen vergnügliche, kleine, erlesene Theaterstück. Wie gesagt: Ich kann mich nicht erinnern, je etwas so irrsinnig Komisches erlebt zu haben wie auf dieser Zugfahrt mit meiner besten Freundin Beate von Hamburg nach Berlin.